Direkt zum Seiteninhalt springen

Süchte

Der Immer-wieder-Effekt

Wachmacher aus der Tasse: Drei von vier Deutschen trinken täglich Kaffee. Sind sie damit alle süchtig? Bild: David-W-/photocase.de

Kaffee, Smartphones, Sex – nicht nur Drogen machen süchtig. In welchem Maß eine Abhängigkeit schädlich wird, ist jedoch eine sehr persönliche Sache.

Nicht erschrecken: Höchstwahrscheinlich sind Sie im weitesten Sinne süchtig. Mag sein, dass Sie nicht rauchen, nicht übermäßig viel Alkohol trinken und Drogen allenfalls aus vereinzelten Nächten der späten Teenagerzeit kennen. Aber vielleicht gibt es einen Hinweis darauf, wenn Sie morgens Ihre Tasse Kaffee trinken und sich bei den ersten Schlucken das wohlige Gefühl einstellt, dass der Tag jetzt richtig losgehen kann. Oder wenn Sie beim Einkaufen am Samstagnachmittag ein Glücksempfinden über ein neues Kleidungsstück oder einen Verstärker für die Stereoanlage empfinden.

„Wenn man solche Erlebnisse regelmäßig bewusst sucht und als Quelle für Glück empfindet, läuft im Gehirn teilweise der gleiche Prozess ab wie beispielsweise beim Rauchen“, sagt Chantal Patricia Mörsen von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité Berlin. Sucht, das ist die große Erkenntnis der vergangenen Jahre, braucht keine Substanzen, die der Mensch schlucken, einatmen oder sonst irgendwie aufnehmen muss. Es reicht schon, etwas immer wieder zu tun, das Freude bereitet und für kurze Zeit glücklich macht. Den Rest erledigt das Gehirn dann selbst.

<b>Zug um Zug</b> Mit dem Zigarettenrauch gelangen Suchtstoffe über die Lunge und das Blut ins Hirn, wo sie bei Rauchern Glücksgefühle auslösen. Bild: David-W-/photocase.de

Die Funktionsweise ist sehr ähnlich. „Beim Rauchen gelangen Substanzen aus dem Zigarettenrauch über die Lunge und die Blutbahn ins Gehirn und lagern sich dort an sogenannte Zellrezeptoren an, die bei der Aktivierung an der Entstehung eines trügerischen Glücksgefühls mitwirken“, sagt Martina Pötschke-Langer. Die Suchtexpertin leitet das Deutsche Kollaborationszentrum für Tabakkontrolle der Weltgesundheitsorganisation WHO und arbeitet in der Stabsstelle Krebsprävention am Deutschen Krebsforschungszentrum in der Helmholtz-Gemeinschaft. Die gleiche Wirkung könne auch ohne diese Substanzen erzielt werden: „Es ist ja nicht so, dass unser Körper die Rezeptoren extra dafür hat, dass wir Drogen nehmen können, die dort andocken“, sagt Charité-Psychologin Chantal Patricia Mörsen. Die Funktion der Rezeptoren sei es, das Verhalten in eine richtige Richtung zu lenken. „Wenn wir gutes Essen zu uns nehmen oder guten Sex haben, dann tut das unserem Körper gut, es sorgt für Vitalität und im Idealfall sogar für Nachkommen“, sagt Mörsen. Deshalb setzten sehr angenehme Dinge Dopamin im sogenannten Nucleus Accumbens frei, einem Teil des Gehirns. Anders als die Substanzen aus dem Zigarettenrauch kommt Dopamin im Gehirn von Natur aus vor. „Beim nächsten Mal wird vor dem gleichen Essen oder vor dem Sex mit dem gleichen Partner wieder Dopamin freigesetzt, was uns dazu motiviert, uns auf das freudige Ereignis aktiv zuzubewegen“, sagt Mörsen.

Einer der zentralen Prozesse, die der Sucht im Gehirn zugrundeliegen, ist also nicht per se schlecht. Im Gegenteil: „Die Natur hat hier ein System geschaffen, um uns anzuspornen, lebenswichtigen Tätigkeiten nachzugehen“, sagt Gerhard Meyer vom Institut für Psychologie und Kognitionsforschung der Universität Bremen. Wird diese Reaktion allerdings fehlgeleitet, kann sie schnell zur Gefahr werden. Das geschieht beim Rauchen nicht nur wegen der Inhaltsstoffe, die auf das Belohnungssystem einwirken, sondern auch wegen der körpereigenen Dopamine, die zusätzlich freigesetzt werden. Das hängt damit zusammen, dass Rauchen als angenehmes Erlebnis wahrgenommen wird: Man steht in einer Gruppe und unterhält sich, oder man genießt allein auf dem Balkon den Ausblick – für manche ist das „Eine- Rauchen-Gehen“ einer der Höhepunkte des Tages. „Über fast ein Jahrhundert wurde das Rauchen sozial akzeptiert. Obwohl wir dem Lobbyismus der Tabakkonzerne heute etwas entgegensetzen und es schon geschafft haben, die Zahl der jugendlichen Raucher deutlich zu senken, lässt sich das Image nicht von heute auf morgen komplett umdrehen“, sagt Martina Pötschke-Langer.

Der gesundheitliche Schaden, den das Rauchen anrichten kann, ist längst bekannt – von Lungenkrebs reicht die Liste der Krankheiten über Atherosklerose bis hin zu chronischen Formen der Bronchitis. 20 Millionen Raucher gibt es in Deutschland, hinzu kommen fast zwei Millionen Alkoholabhängige und zwischen 1,4 und 1,8 Millionen Medikamentensüchtige. Da wundert es kaum, dass der Begriff Sucht in der Gesellschaft eher negativ belegt ist – und dass Verhaltensweisen schnell gebrandmarkt werden: Von Kaufsucht, Smartphonesucht, Internetsucht, Fernsehsucht, Sexsucht, Arbeitssucht, Chatsucht, Pornosucht ist heute oft die Rede – so wie im 18. Jahrhundert gar die Angst vor Lesesucht kursierte.

„Sucht ist keine Einbahnstraße. Viele schaffen es ohne professionelle Hilfe, sich dem Suchtverhalten zu entziehen“

Dabei ist Sucht gar nicht immer negativ. Der Belohnungseffekt, der mit einer manifesten Sucht viel gemein hat, spielt auch im Leben all derer eine Rolle, die sich ohne zu zögern als nicht süchtig bezeichnen würden – und hat hier manchmal sogar positive Auswirkungen. Der Belohnungseffekt kann mit der Befriedigung anfangen, gegen Feierabend den Schreibtisch im Büro aufzuräumen; weil es so schön ist, ihn fast leer zu haben, wenn man geht, will man einfach nicht darauf verzichten. Auch wer jeden Samstagabend in die Disco oder jeden Sonntagnachmittag zum Tanzcafé geht, weil er den Nervenkitzel des Flirtens genießt, weist streng genommen erste Symptome eines Suchtverhaltens auf. Und dass viele mehrmals die Woche joggen, hat nach einer Reihe positiver Erfahrungen ebenfalls einen Belohnungseffekt zur Folge – eine Alltagssucht, die sogar positive Folgen hat. Doch der Belohnungseffekt ist auch verantwortlich für das exzessive Betrachten von Serien, manche Fans schauen fünf, sechs Episoden am Stück. Und für das beständige Essen von Schokolade oder Gummibärchen.

Was davon ist nun eine echte Sucht? Drei von vier Deutschen trinken täglich mindestens eine Tasse Kaffee. Sind sie alle süchtig? Fünf bis acht Prozent der Bevölkerung haben Expertenschätzungen zufolge ein erhöhtes Risiko, kaufsüchtig zu werden. Aber wann sind sie es? Wo verläuft die Grenze zwischen einer gefährlichen Krankheit und einer harmlosen Angewohnheit?

„Wer genug Geld hat, kann viel kaufen, ohne dass es ihm zum Verhängnis wird. Wer sehr schlank ist, braucht sich keine Gedanken zu machen, dass der häufige Schokoladenkonsum ansetzt“, sagt Psychologin Chantal Patricia Mörsen. Und die tägliche Dosis Koffein dürfte auch keinen Schaden anrichten, wenn man nicht gerade deutlich zu hohen Blutdruck hat. Wann eine Sucht ins Krankhafte abgleite, lasse sich daran festmachen, ob sie dem Betroffenen direkt schade.

Doch eine krankhafte Sucht hat auch andere Charakteristika. „Sie dient oft als Ersatzbefriedigung für etwas, was man nicht anders bekommt“, sagt Mörsen. Wer beispielsweise im Job keine Anerkennung oder in der Ehe keine Bestätigung bekomme, der suche positive Gefühle und Erlebnisse auf andere Weise. Schnell wird das Suchtverhalten dann zum zuverlässigen Strohhalm, nach dem man immer greifen kann und der so eine Flucht vor den eigenen Problemen ermöglicht. Doch bald muss die Reizintensität erhöht werden, um die gleiche Zufriedenheit wie am Anfang zu erzielen. Ein Teufelskreis beginnt.

<b>Der Kick im Casino</b> Eine halbe Million Menschen in Deutschland sind spielsüchtig. Bild: istockphoto.com/anna42fa

Wie weit man schon in der Suchtspirale drin steckt, lässt sich bei der Glücksspielsucht anhand eines Katalogs von neun Merkmalen messen; wenn vier davon erfüllt sind, sprechen Experten von einer Sucht. Zu den Merkmalen zählen zum Beispiel die Toleranzentwicklung: Immer höhere Einsätze sind nötig, um das gleiche Glücksempfinden auszulösen. Und der Kontrollverlust, der einen Spieler dazu führt, doch wieder 500 Euro im Casino einzusetzen, auch wenn er sich ein Limit von 100 Euro gesetzt hat.

Der Merkmalkatalog ist auf viele andere Suchterkrankungen übertragbar. Dass ausgerechnet die Glücksspielsucht – von der in Deutschland nach einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fast 500.000 Menschen betroffen sind – so sorgfältig dokumentiert ist, hat einen einfachen Grund: Als einzige Sucht, die durch ein Verhalten ausgelöst wird, ist sie im internationalen Krankheitsverzeichnis psychischer Störungen eingetragen, dem sogenannten DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). In der Fachwelt sorgte es unlängst für Aufsehen, dass die Glücksspielsucht dort umsortiert wurde – von den sogenannten Impuls-Kontrollstörungen zu den stoffungebundenen Süchten, den Verhaltenssüchten. „Die Erweiterung des Suchtkonzepts um die stoffungebundenen Süchte hat große praktische Relevanz, gerade auch in Bezug auf Therapien“, sagt der Psychologe Patrick Trotzke von der Universität Duisburg-Essen.

Wie aber lässt sich eine krankhafte Sucht behandeln? Wer nicht allein davon loskommt, kann sich laut der Charité-Expertin Chantal Patricia Mörsen zunächst an Suchtberatungen oder Vereine wie die Anonymen Spieler wenden, die es mittlerweile in jeder kleineren Stadt gibt. Erst als letzte Lösung solle man sich stationär behandeln lassen. „Sucht ist keine Einbahnstraße. Viele schaffen es ohne professionelle Hilfe, sich dem Suchtverhalten lang genug zu entziehen, so dass der Druck geringer wird“, sagt Mörsen.

Leser:innenkommentare